Resumée der Herbsttagung 06 der Studiengesellschaft für MittelstandsfragenDer Mittelstand und sein Unbehagen mit dem Staat: Wie viel Freiheit braucht der Mittelstand, wie viel Freiheit verträgt er?

Tegernsee 16.- 18. 11.2007

Die folgenden Bemerkungen stellen kein Ergebnisprotokoll der Herbst-Tagung 2007 der Studiengesellschaft für Mittelstandsfragen dar. Sie versuchen hingegen auf Grundlage der Referate und Diskussionen aus Sicht des Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats der Studiengesellschaft Schlussfolgerungen zu ziehen, die für weitere Diskussionen und für politisches Handeln relevant sein können. Dort, wo nicht explizit der Name eines Referenten (in Klammer) angegeben ist, handelt es sich in diesem resümierenden Artikel daher immer um die persönliche Meinung des Verfassers.

  1. Die Deutschen und das Unbehagen mit ihrem Staat: eine differenziertere Betrachtungsweise ist nötig
    Wissenschaftliche Untersuchungen und Stammtischgespräche zeigen es gleichermaßen: im internationalen Vergleich haben die Deutschen eine besonders kritische Einstellung zum Staat. Zuviel Regulierung, eine schlechte Qualität der Leistung, Bürgerferne, zu viel bürokratische Organisation, zu hohe Kosten werden beklagt (Wagschal). Der Bürger und im Besonderen die Unternehmer begreifen sich als Opfer eines überbordenden Staates:
    • Bezüglich der Einschätzung der Qualität der staatlichen Leistungserbringung liegt Deutschland unter den EU 15 Mitgliedern an drittletzter Stelle (Eurobarometer)
    • Auch beim Vertrauen, dass die Öffentliche Verwaltung die Lebensqualität verbessert liegt Deutschland an drittletzter Stelle (Eurobarometer)
    • Unter 28 OECD Ländern hat Deutschland die achthöchste Regulierungsdichte (OECD)
    • Die Belastung der Unternehmen durch den Staat und im Besonderen die Belastung durch Steuern und Abgaben wird in Deutschland als überdurchschnittlich hoch empfunden.
    (Wagschal) weist aber auch darauf hin, dass diesem Unbehagen mit dem Staat -wie es eigentlich zu erwarten wäre und wie es Marktliberale (Mühlfenzl) auch fordern- kaum ein starker Wunsch nach Entstaatlichung (Privatisierung, Ausgliederung) oder Marktöffnung entspricht. Ganz im Gegenteil: starke Gruppen des Mittelstands (z.B. die Freien Berufe, das Handwerk, etc. verlangen weiterhin Marktzugangsregulierungen, Mindestlöhne usw. Sind die deutschen Unternehmer also auch Täter, zumindest Mittäter beim Vergrößern des Staates? Scheuen sie die notwendige Konsequenz von weniger Staat, nämlich mehr Eigenverantwortung (Mühlfenzl) und die damit verbundenen Folgen? Was die Deutschen offenbar wollen ist kein Systemwechsel, den Marktliberale einfordern, etwa hin zum angelsächsischen Modell mit seinem weit höheren Maß an Freiheit aber auch Eigenverantwortung, , sondern eine Effizienzsteigerung des bestehenden Systems. Gibt es vielleicht auch gute sachliche Gründe hierfür?

    Die Herbsttagung 2008 der Studiengesellschaft für Mittelstandsfragen hat versucht sich diesen Fragen zu stellen und in der nötigen Differenziertheit Antworten zu geben. Diese Differenzierung betrifft sowohl den Begriff der Belastung durch den Staat selbst, wie auch die möglichen Handlungsoptionen. Nötig ist die Differenzierung, weil die Diskussion in der Regel zu pauschal abläuft: Belastung durch zu viel Staat wird häufig auf das Thema der staatlich induzierten Bürokratiekosten in Unternehmen verkürzt, obwohl die Bürokratie im Staat selbst die Unternehmen über Steuern und Abgaben ebenfalls belastet und überbordende Regulierungen zusätzliche Kapitalkosten verursachen, die unternehmerische Handlungsfreiheit beeinträchtigen und im Besonderen Innovation und damit Wirtschaftswachstum behindern können (Felderer). Statistische Meßprobleme behindern zusätzlich eine rationale Diskussion (Felderer). Allzu pauschal verläuft häufig auch der Diskurs über politische Handlungsoptionen: als Alternative zum deutschen System wird das angelsächsische System gepriesen, ohne dessen negative Konsequenzen besonders für den Mittelstand zu bedenken (Piltz) und statt dessen einen innovativen Mittelweg zu suchen, der die fast immer vernachlässigten produktiven Wirkungen staatlicher Tätigkeit (Felderer) berücksichtigt.

  2. Der Staat als Kostenfaktor und Wachstumsbremse

    2.1. Administrative Bürokratiekosten in deutschen Unternehmen liegen im internationalen Vergleich hoch

    (Welter), (Felderer) und (Wagschal) geben einen interessanten Überblick über empirische Studien zur Höhe der staatlichen Bürokratiekosten in Unternehmen. Alle diese Studien stehen zwar auf wackeligen empirischen Beinen, weil die Messkonzepte unscharf und die Erhebungsmethoden notwendigerweise ungenau sind. Gemessen werden primär die Kosten der unternehmerischen Informationspflichten gegenüber dem Staat, die Messungen beruhen in der Regel auf Befragungen der Unternehmen selbst. Es ergibt sich aber immerhin eine Größenordnung (Felderer): der Anteil der staatsinduzierten Kosten in deutschen Unternehmen beträgt etwas über 3% des BIP, etwas weniger als 60% davon stammen dabei aus der Anwendung von nationalen Rechtsquellen, der Rest von internationalen und national umgesetzten internationalen Rechtsquellen. Etwa 45% gehen auf die Anwendung des Steuerrechts, 35% auf die Anwendung arbeitsrechtlicher und etwas weniger als 20% auf die Anwendung umweltrechtlicher Normen zurück. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland dabei relativ hoch: vergleichbare Länder wie etwa Dänemark, Finnland Großbritannien Irland, Italien, Portugal, Schweden, Slowakei (alle unter 2,5% des BIP), Belgien. Frankreich, Spanien, Österreich (zwischen 2,5% und 3% des BIP liegen günstiger, die Niederlande, Tschechien, Griechenland, Polen, Slowenien, Ungarn (über 3,5% des BIP) haben schlechtere Werte. Die Tatsache, dass praktisch alle westeuropäischen Staaten (mit Ausnahme der Niederlande) bessere Ergebnisse haben weist sehr deutlich auf ein bestehendes Reformpotential in Deutschland hin.

    2.2. Kostenfaktor Steuern und Abgaben

    Auffällig ist, dass in der deutschen Bürokratiediskussion zwar die Kosten von staatsinduzierter Bürokratie in Unternehmen, kaum aber die Kosten der staatlichen Bürokratie selbst, die ja in Form von Steuern und Abgaben die Unternehmen belasten, berücksichtigt werden. Die Diskussion über Steuern und Abgaben wird getrennt geführt- vielleicht und das dann zu recht, weil die Kosten der staatlichen Bürokratie nur einen Teil der Steuer- und Abgabenlast ausmachen und überdies nur zum Teil von den Unternehmen zu tragen ist. (Felderer) berichtete nun über eine Studie seines Institutes (IHS Wien), in der der Versuch gemacht wurde, die Steuer- und Abgabenquote zumindest von Transfers (Finanzierung staatlicher Renten, des Gesundheits- und Sozialsystem etc.) zu bereinigen, um damit zu einer realistischeren Kennzahl- der Nettobelastung mit Steuern und Abgaben- vor allem für internationale Vergleiche der Größe der staatlichen Administration zu kommen. Realistischer deshalb, weil in den einzelnen Staaten Transfers eine unterschiedlich starke Rolle spielen (in Deutschland eine überdurchschnittlich hohe), das Volumen der Transfers kaum einen Rückschluss auf die damit verbundene Bürokratie erlaubt (z.B. ist für eine lineare Erhöhung der Renten kein höherer bürokratischer Aufwand erforderlich) und selbst dort, wo im internationalen Vergleich ein ähnliches Niveau der Transfers vorliegt, unterschiedliche Zahlungsmodelle zu unterschiedlichen Steuer- und Abgabenquoten führen.

    Die Ergebnisse dieser Bereinigung sind vor allem für Deutschland überraschend: Deutschland weist mit ca.16% des BIP vor der Slowakei und Österreich die niedrigste Nettoabgabenquote von 16 untersuchten OECD- Staaten auf. Die Quote hat überdies eine in der Zeit abnehmende Tendenz. Dazu passt (Wagschal), nach dem der Personalstand der öffentlichen Hand in Deutschland unterdurchschnittlich ist und abnehmende Tendenz hat.

    Die Studie des IHS hält hier inne. Will man aber die administrativen Kosten der öffentlichen Hand im engeren Sinne berechnen, muss diese Nettobelastung noch um die öffentlichen Investitionen und die Kosten der Leistungsverwaltung (z.B., Bildung, Gesundheit, etc.) bereinigt werden, so dass von den 16% wohl nur zwischen 5% und 10% des BIP übrig bleiben, wovon wiederum nur ein Teil von den Unternehmen, der Rest von den Haushalten zu zahlen ist. Diese Belastung scheint im internationalen Vergleich überdies gering zu sein. Teuer ist in Deutschland im internationalen Vergleich das Sozialsystem (Transfersystem) nicht aber die staatliche Verwaltung.

    Es muss hier allerdings noch der Zusammenhang zwischen der spezifischen Ausformung des staatlichen Transfersystems und den Bürokratiekosten in Unternehmen hingewiesen werden. Schon weiter oben wurde darauf hingewiesen, dass die Finanzierungsseite des Sozialsystems (Steuern und Abgaben) in deutschen Unternehmen hohe Bürokratiekosten entstehen lässt, was wohl auf die besondere Komplexität des Systems zurückzuführen ist.

    2.3. Wie immer die Daten interpretiert werden, eines ist klar: in der deutschen Wirtschaft ist der Mittelstand das eigentliche Opfer der Bürokratiekosten

    (Welte) und (Felderer) zeigen sehr deutlich, dass sich bei einem Vergleich der staatsinduzierten Bürokratiekosten pro Beschäftigten nach Unternehmensgröße in Deutschland enorme Unterschiede ergeben: Die Kosten pro Beschäftigten liegen bei Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten etwas unter 1000 US $, bei Unternehmen mit 20 bis 49 Beschäftigten schon bei 1500 US$ und bei noch kleineren Unternehmen knapp über 4500 US$!

    Berücksichtig man zusätzlich, dass- wie u.a. Jarass-Obermair1 gezeigt haben, dass in Deutschland kleinere Unternehmen weit stärker als große von den Unternehmenssteuern betroffen werden, so ist es nicht verwunderlich, dass gerade im Mittelstand das Gefühl einer Überbelastung durch den Staat und damit einer Gefährdung seiner Wettbewerbsfähigkeit und damit seiner Existenz besteht.

    2.4. Regulierung begrenzt Freiheit: Der Staat als Wachstumsbremse

    Die Europäische Kommission stellte für 2005 eine hypothetische Rechnung an: wie stark würde in den Mitgliedsländern das BIP wachsen, wenn die administrativen Kosten bei Unternehmen um 25% reduziert würden (Felderer). Wie immer diese Rechnung erfolgte und wie hypothetisch sie immer sein mag, das Ergebnis gibt doch Anhaltspunkte: das BIP Deutschlands könnte um etwa 1,4 % höher liegen. Deutschland liegt damit gleich auf mit Österreich, Frankreich, und den Niederlanden, aber schlechter als die sonstigen westeuropäischen Länder. Die 1,4% sind dabei wahrscheinlich eine Untergrenze, weil kaum berücksichtigt werden konnte, wie viel Wachstum durch Regulierungen verloren geht, die zwar vergleichsweise wenig administrative Kosten verursachen, aber Innovationen verhindern. Man denke hier nur an die im Vergleich zu anderen Ländern relativ restriktiven deutschen Bestimmungen bei der Anwendung der Gentechnologie. Überschießende Regulierungen am Arbeitsmarkt verursachen in Unternehmen wohl beides: hohe Bürokratiekosten und Wachstumsverluste durch fehlende Flexibilität.

    2.5. Die Frage nach der Nettoeffizienz der staatlichen Verwaltung und staatsinduzierten Administration in Unternehmen: Der Staat darf nicht nur als Kostenfaktor, er muss auch als Wachstumsquelle betrachtet werden.

    (Felderer) forderte eine Betrachtung der Nettokosten des Staates in Unternehmen, weil Regulierungen auch Vorteile für Unternehmen bringen. Es gilt also, der Gesamt-Bürokratiekostenbelastung der deutschen Unternehmen (Bürokratiekosten in Unternehmen plus den von Unternehmen zu tragenden Kosten der staatlichen Verwaltung) von maximal 10% des BIP den eventuell gestifteten Nutzen gegenüber zu stellen. Tatsächlich wird wohl niemand- vielleicht mit Ausnahme einiger Libertarians z.B. die Notwenigkeit der Existenz und Durchsetzung einer staatlichen Ordnung und ihrer Finanzierung bestreiten (Eigentumsordnung, Marktordnungen, etc.). Es handelt sich hier um typische öffentliche Güter, die der Markt nicht zu produzieren in der Lage ist, ohne die aber ein Krieg aller gegen alle jedes nachhaltige Wirtschaften mit hoher Produktivität unmöglich macht. Strittig ist, wie weit über die Garantie der Eigentums- und Marktordnung hinausgehende Regeln, die versuchen Unsicherheit zu reduzieren und Gerechtigkeit zu schaffen, tatsächlich einen Netto-Nutzen stiften können. Ein Blick auf die USA mag hier erhellend sein (siehe unten).

    Neben der Produktion öffentlicher Güter kommt dem Staat auch eine wichtige Rolle bei der Organisation/Finanzierung meritorischer Güter zu. Dabei handelt es sich um solche Güter, die am Markt zu Marktpreisen mangels ausreichender Nachfrage nur in unzureichender Menge/Qualität zur Verfügung stellt. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist Bildung und Ausbildung. Nicht zu Unrecht wird oft darauf hingewiesen, dass die besondere Stärke der deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb in Qualitätsarbeit besteht, die ohne ein hohes Qualitätsniveau der Bildung/ Ausbildung kaum denkbar ist.

    Staatliche Ordnung ist daher nicht nur ein Kosten-sondern auch ein Produktivfaktor und darf deshalb auch etwas kosten- die Frage ist nur wie viel. Es darf in Erinnerung gerufen werden, dass im internationalen Vergleich mit Ländern gleicher Gesamt-Produktivität die staatlich induzierten Bürokratiekosten in deutschen Unternehmen relativ hoch, die Kosten der staatlichen Verwaltung hingegen relativ niedrig liegen und Deutschland damit insgesamt gesehen gar nicht so schlecht positioniert ist. Die Bilanz verschlechtert sich allerdings, wenn man zusätzlich die im internationalen Vergleich wohl überdurchschnittlich hohe wachstumsbremsende Wirkung vieler deutscher Regulierungen (siehe oben)berücksichtigt. Insgesamt besteht daher ein erhebliches Potential zur Verbesserung der Kosten- Nutzen Relation staatlicher Verwaltung .

  3. Der Mittelstand ist auch Täter: trägt er damit zum Gemeinwohl bei?

    Der Mittelstand klagt zu recht (siehe oben) über seine hohe Bürokratiebelastung, besonders im Verhältnis zu Großunternehmen. Er sieht sich als Opfer. Ernst zu nehmende, unverdächtige Stimmen (aus dem bürgerlichen Lager selbst, aus der deutschen Bürokratie und der EU- Kommission)nennen aber auch wichtige Beispiele, wo der Mittelstand eher als Täter bezeichnet werden muss. Als eines der wohl wichtigsten Beispiele der letzten Zeit wird häufig die Diskussion um die im Entwurf einer EU- Dienstleistungsrichtlinie vorgesehenen Liberalisierungen genannt (Liesenfeld). Bedeutende Teile des Mittelstands (z.B. freie Berufe, Handwerk) standen in heftigem Widerstand zu diesem Projekt, das letztlich nur nach wesentlichen Entschärfungen angenommen wurde. Die Verfechter der EU- Dienstleistungsrichtlinie wiesen nicht zu unrecht darauf hin, dass die angestrebten Liberalisierungen in anderen Wirtschaftsbereichen, vor allem in der Industrie, bereits seit langem wirkten und dort zu erfolgreichen Strukturanpassungen mit erheblicher positiver Wachstumswirkung geführt hätten (Liesenfeld). Dem betroffenen Mittelstand wurde Protektionismus (Schutz durch Regulierung) und Unwille zum Wandel vorgeworfen.

    Die Gegenargumente des betroffenen Mittelstands sind allerdings ernst zu nehmen. Sie stellen das Bürger- und Gemeinwohl (Kammermeier) in den Mittelpunkt und weisen darauf hin, dass die betroffenen Leistungen einen anderen Charakter als industrielle Massenware hätten, dass individuelle Beratung wichtig und nur durch Erbringung vor Ort möglich sei, und dass Qualität weniger über Produktstandards sondern nur durch ein nachhaltiges, entsprechend standardisiertes hohes Ausbildungsniveau der Leistungserbringer selbst möglich sei. Individualität und Qualität erhöhten das Gemeinwohl, auch wenn dies nicht im BIP und seinem Wachstum Ausdruck finde. Die Liberalisierung des Dienstleistungs- und Handwerksbereiches stelle all dies in Frage. Als abschreckendes Beispiel wird auf die angelsächsischen Länder und hier im Besonderen auf die USA hingewiesen. Die Diskussion dieses Modells kann tatsächlich einiges an Klärung bringen.

  4. Lösungsansätze

    4.1. Die USA als Vorbild? Kosten und Nutzen eines Systems mit hoher Eigenverantwortung: hoher Risikopegel gefährdet Mittelstand

    Verfechter der Liberalisierung, also Deregulierung und Privatisierung in Kontinentaleuropa und vor allem auch in Deutschland verweisen gerne auf die aus ihrer Sicht vorbildhafte Situation in den USA und verweisen auf Wirtschaftsergebnisse, die Europa hinter sich lassen. Die unter Täterverdacht stehen Gegner der Deregulierung zitieren die USA umgekehrt als Beweis für den Untergang von Bürger- und Gemeinwohl (siehe oben). Wer hat recht?

    Es ist eine Tatsache, dass die Tätigkeit US-amerikanischer Unternehmen wesentlich weniger durch staatliche Regeln (vor allem auch im Bereich des Verbraucherschutzes) beschränkt wird und dass die staatsinduzierten Bürokratiekosten in Unternehmen niedriger sind. Fraglich aber ist, ob diese Situation Unternehmen und Bürger tatsächlich besser stellt:

    • Dem niedrigeren Regulierungsgrad (Verhaltensbindung/ Verhaltensausschluss durch öffentliches Recht)steht die Notwendigkeit/Möglichkeit gegenüber, entstandene Schäden auf zivilrechtlichem Wege einzuklagen. Die dabei möglichen Entschädigungen bezwecken nicht nur die Schadensabgeltung sondern auch die Prävention und können exorbitante Höhen erreichen. Durch die mögliche Beteiligung von Rechtsvertretern am Verfahrenserfolg und Gruppenklagen (Class Action)ist der Zugang zum zivilrechtlichen Verfahren auch relativ einfach/billig. Es wird daher viel geklagt, the Costs of Litigation aber sind dementsprechend gesamtwirtschaftlich gesehen wesentlich höher als in Europa und können schuldig befundene Unternehmen leicht existentiell gefährden. Rechtshilfeversicherungen als Abhilfe sind oft der einzige Ausweg, aber so teuer, dass sie für kleinere Unternehmen kaum leistbar sind. Den niedrigeren staatlichen Bürokratiekosten stehen daher höhere private Rechtskosten gegenüber. Die extrem hohen Kosten des US- amerikanischen Gesundheitssystems sind im wesentlichen auf diese Kostenquelle zurückzuführen. Insgesamt gesehen dürfte das US-System den Unternehmen daher kaum billiger kommen und bindet in kleineren Unternehmen unternehmerische Kapazitäten in überdurchschnittlichem Maße.
    • Unternehmerische Informationspflichten an den Staat spielen eine geringere Rolle als in Kontinentaleuropa/ Deutschland, weil die Unternehmen z.B. nicht die Steuer- und Abgabeneinnehmer des Staates sind und der Staat für Arbeitnehmer auch gar nicht als Sozialversicherer auftritt. Unternehmen bieten ihren Arbeitnehmern aber oft eine betriebliche Krankenversicherung. Der daraus entstehende bürokratische Aufwand ist zwar nicht staatsinduziert, belastet die Unternehmen aber auch. Daten aus der Schweiz, in der es eine obligatorische private Pensionsversicherung der Arbeitnehmer durch Unternehmen gibt lassen überdies vermuten, dass die Kosten der Verwaltung (oft ausgelagert an Versicherungen) sogar über jenen der staatsinduzierten Verwaltung liegen. Die Privatisierung von Verwaltungsaufgaben führt also nicht notwendigerweise zu Einsparungen.
    • Die um die Transfers bereinigte Steuer-und Abgabenquote (Felderer) der USA liegt nicht wesentlich niedriger als jene Deutschlands- die staatliche Bürokratie selbst dürfte daher nicht wesentlich billiger sein.
    • Das US- System dürfte allerdings unternehmerische Flexibilität und Innovation erleichtern, wofür es eine Reihe guter Beispiele gibt.
    • Ob dies allerdings ausreicht, um die höhere US-Wachstumsrate im Vergleich zu Deutschland während der letzen 15 Jahre zu erklären ist zweifelhaft, weil es statistische Messprobleme und Sonderfaktoren gibt: in den USA verfolgten Regierung und Notenbank einen extrem expansiven wirtschaftpolitischen Kurs, während in Europa im Zuge der EURO- Einführung das Gegenteil der Fall war, und in Deutschland auch metaökonomische Faktoren (Wiedervereinigung) wirksam waren.

     

    Jedenfalls wirkt sich das US- amerikanische System des Ersatzes öffentlicher Regulierung durch das privatrechtliche Schadensrecht eindeutig zu Lasten des Mittelstandes aus (Piltz): einen Mittelstand im europäischen und insbesondere deutschen Sinne gibt es in den USA nicht. Mittelständische kundenspezifische Dienstleistung wird durch großindustrielle Standardfertigung ersetzt: Im Wohnbau gibt es primär kurzlebige Häuser von der Stange mit geringer Reparaturfähigkeit (es mangelt auch an entsprechenden Reparatur- Fachkräften), im Fremdenverkehr Systems Food und Hotelketten statt Diversität in Eigentümer- geführten Restaurants und Hotels, etc. All dies sollte Mittelständlern und ihren politischen Vertretern als Warnung dienen, allzu heftig den Umstieg auf das US-System zu fordern. Man würde sich selbst und den Bürgern das Wasser abgraben.

    4.2. Selbstverwaltung und Selbstregulierung der Betroffenen : den Vorteilen stehen auch Gefahren für den Mittelstand gegenüber

    Regulierungs- und Verwaltungsaufgaben müssen nicht automatisch vollständig vom Staat durchgeführt werden. Zwischen der Aufgabenerfüllung durch den Zentralstaat und einer freien, rein marktlich organisierten Erbringung von Leistungen gibt es eine Fülle von Zwischenformen, wie etwa mit Regulierungs-/Verwaltungsaufgaben beliehene Vereine/Verbände/Unternehmen (z.B. Normung), im Rahmen von staatlichen Akkreditierungsverfahren arbeitende private Unternehmen (z.B. technische Überprüfung von Kfz), die Entwicklung von Verhaltenskodizes für Mitglieder durch ihre Verbände (z.B. Codes of Conduct), etc. (Blum). Immer häufiger haben in solchen Fällen der Staat oder supranationale Behörden/ Organisationen die Aufgabe der Superregulierung, also der Vorgabe einer Rahmenordnung bzw. Überwachung (z.B. EU, OECD, etc.). In manchen Fällen ist die Aufsicht des Staates nur latent, d.h. dass der Staat klarmacht, im Falle des Versagens der Selbstregulierung die Rolle des Superregulators übernehmen zu wollen. Generell ist die Überwachung durch den Staat und supranationaler Organisationen besonders dort, wichtig, wo die Selbstregulierung einer Gruppe von Akteuren (meist Unternehmen) negative Effekte dieser Akteure auf Dritte verhindern soll. Selbstregulierung folgt hier oft dem Prinzip wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass, kurz: es besteht die Gefahr der Scheinlösung.

    Eine solche Institutionalisierung bedeutet in der Regel jedenfalls dass der Umfang der staatlichen Verwaltung/Regulierung geringer wird. Ob damit für Wirtschaft und Gesellschaft allerdings auch die Effizienz insgesamt steigt muss im Einzelfall genau geprüft werden. Auch hier ist die Situation des Mittelstands im Vergleich zu Großunternehmen besonders delikat. Das Beispiel der Normung zeigt es ganz deutlich: die Normungsinstitute sind meist als staatlich beliehene Vereine konstituiert, bei denen Großunternehmen dominieren. Dies ist deshalb ganz natürlich, weil die Kosten der Teilnahme an der Normierung unabhängig von der Betriebsgröße sind. Für kleine Unternehmen sind die Kosten daher relativ höher. Cost Sharing der kleineren Unternehmen ist aber auf freiwilliger Basis unwahrscheinlich, weil das Endprodukt (die Norm) den Charakter eines öffentlichen Gutes hat, so dass Trittbrettfahren rational ist. Insgesamt gesehen ist dann die Gefahr eines Capturing (Blum) des Normungsprozesses durch Großunternehmen wahrscheinlich. Jenseits der Beleihung durch den Staat muss dieser dann oft auch finanzielle Unterstützung leisten, die in den betroffenen Unternehmen aber auch wieder Verwaltungsarbeit notwendig macht.

    4.3. Weniger Bürokratie durch eine effizientere Umsetzung von Regulierung?

    (Nijsen) meint, dass Deutschland keineswegs zu viel Staat hätte, dass es möglicherweise zu viel Regulierung gebe, dass aber jedenfalls zu viel staatsinduzierte bürokratische Organisation zur Umsetzung von Regulierung- vor allem in Unternehmen- notwendig sei. Lösungen müssten prioritär hier ansetzen. Auch (Welte) und (Felderer) setzen hier die Priorität. Dieser dritte Lösungsansatz akzeptiert zwar weitgehend die Notwenigkeit der Regulierung im bestehenden Umfang stellt ihre konkrete Ausformung aber in zweierlei Hinsicht in Frage:

    • Weniger Mittelregulierung, mehr Zielregulierung (Nijsen): Hier wird es den Unternehmen freigestellt, den für sie besten Weg selbst zu finden, um ein vom Staat vorgegebenes Ziel zu erreichen. Dies soll mehr Freiheit für innovative Lösungen schaffen und unternehmerisches Wissen bestmöglich in den Lösungsprozess einbeziehen. Hierfür gibt es in Europa besonders im Umweltbereich interessante Beispiele. Auch der Versuch der Lösung von Problemen der Umweltverschmutzung mit dem Handel von Verschmutzungsrechten geht in diese Richtung.
    • Höhere Effizienz der Verwaltungsabläufe für gegebene Regulierungen (Nijsen, Felderer): Dieser Ansatz konzentriert sich im Wesentlichen auf die Informationspflichten von Unternehmen gegenüber den öffentlichen Händen, die offenbar den Großteil des staatsinduzierten Bürokratieaufwands in Unternehmen ausmachen. Ein überbordendes Steuer-, Arbeits- und Umweltrecht dürfte in Deutschland vor allem dafür verantwortlich sein. Fraglich ist allerdings ob in diesen Fällen tatsächlich eine Effizienzsteigerung der Informationsgewinnung ausreicht, oder ob nicht die Rechtslage als Quelle der Informationspflichten reformiert werden muss, um den Umfang der Informationspflichten zu verringern.

     

    Offen bleibt hier auch die Frage, ob nicht eine ganze Reihe von Regulierungen- einmal unabhängig von der Bürokratiefrage betrachtet- ineffizient hinsichtlich ihres Regelungsziels sind. Man denke hier nur an den Bereich der Ertragsbesteuerung, wo der Versuch, es jeder Gruppe durch Ausnahmen, etc. recht zu tun gesamthaft offenbar zu Ungerechtigkeit und Rechtsbruch führt. Eine Reform in Richtung einfacherer und transparenterer Regeln würde aber wohl auch helfen, Bürokratie abzubauen. Doch scheint es allerdings so zu sein, dass die über zu viel Bürokratie klagenden Gruppen gleichzeitig auch Begünstigte gruppenspezifischer Spezialregeln sind. Dies führt dazu, dass häufig die Einsicht verweigert wird, dass die begünstigende Regel und die überschießende Bürokratie zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Die Reformbereitschaft ist dann entsprechend gering.

  5. Schlußbetrachtung
    Es gibt kaum einen Zweifel, dass besonders die Unternehmen des deutschen Mittelstands überdurchschnittlich (im internationalen Vergleich und im Vergleich zu den Großunternehmen) mit staatsinduzierter Bürokratie belastet sind und es ein erhebliches Potential für Belastungs- senkende Reformen gibt. Klar aber ist auch, dass der Mittelstand nicht nur Opfer sondern auch Täter ist: so manche marktschützende und Bürokratie- erzeugende Regulierung beruht auf Forderungen des Mittelstands. Vergleiche mit den USA zeigen aber, dass die typische kontinentaleuropäische Ausprägung von Regulierung gleichzeitig auch zum Bestandsschutz eines lebendigen Mittelstandes wesentlich beiträgt. Wer daher für die Existenz eines solchen Mittelstands aus wirtschaftlichen, vor allem aber auch aus gesellschaftspolitischen Gründen eintritt muss sich hüten, in der Bürokratie- und Regulierungsdiskussion das Kind mit dem Bade auszuschütten und einen kompletten Systemwechsel zu verlangen. Richtiger ist es, im Rahmen eines kontinentaleuropäischen Systemverständnisses Ineffizienzen abzubauen, die Flexibilität auszuweiten und Regulierungen einfacher zu gestalten.